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Islamischen Feminismus übersetzen

Von Christian Kallwass

Im Mai 2024 Jahres hielt die Jordanierin Maysun al-Dabubi im Kolloquium Philosophie aus der MENA Region (PhiloMENA) einen Vortrag über ihr Buch Die Idee des islamischen Feminismus in der heutigen arabischen Welt, zwischen Tradition und Moderne (Amman, 2020).[1] Von diesem liegt nun die Übersetzung des sechsten Kapitels Hindernisse auf dem Weg des zeitgenössischen arabisch-islamischen Feminismus in deutscher Sprache vor. Im Folgenden wird von diesem Kapitel eine kurze Zusammenfassung gegeben, um dann den Inhalt interpretierend zu kontextualisieren. Im Abschluss wird auf Herausforderungen beim Übersetzen generell sowie dieses Textes im Besonderen eingegangen.

Der Text: kurze Zusammenfassung

In ihrem Text untersucht Maysun al-Dabubi die Probleme, welche sich dem zeitgenössischen Feminismus in der arabisch-islamischen Welt stellen. Sie geht davon aus, dass es kulturelle Einflüsse sind, welche das volkstümliche Erbe prägen. Dieses wiederum überformt die religiöse Textauslegung (also die Auslegung des Korans und anderer religiöser Überlieferungen). Diese Beeinflussung durch kulturelle Faktoren, welche sie als patriarchale identifiziert, verfälschen somit den eigentlichen Sinn der Offenbarungstexte. Die in Religion und religiöse Strukturen eingeschriebenen patriarchale Ordnung sei wiederum, zusammen mit der auf dieselbe Weise strukturierten politischen Ordnung, das Haupthindernis entgegen einer feministischen Transformation. Um diese zu verwirklichen, fordert sie nicht weniger als eine geistige und kulturelle Revolution. Gleichzeitig sieht sie auch die Notwendigkeit von Gesetzesänderungen und vor allem einer neuen Textauslegung, an welcher darauf spezialisierte Frauen beteiligt sein sollen, um eben dieses Haupthindernis zu beseitigen. Der Text endet mit einem Appell, den feministischen Kampf nicht nur im religiösen Bereich, sondern auch auf kultureller und politischer Ebene zu führen.

Der Inhalt: Eine interpretierende Kontextualisierung

Der Text besteht aus einer Synthese von Elementen des islamischen Feminismus sowie Teilen des westlichen Feminismus. Aus dem islamischen Feminismus, als dessen wichtige Denkerinnen zum Beispiel Kecia Ali oder Amina Wadud zu nennen sind, übernimmt sie die Sichtweise, dass die normativen Schriften neu zu interpretieren sind, und schließt damit auch an die Reformbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (nahḍa) und die Debatte um eine erneute Textauslegung (iğtihād)[2] an. Die Quelltexten sind demnach neu zu prüfen, um sie von Fehlern vorheriger Interpreten zu bereinigen und die patriarchalen Elemente zu beseitigen.

Beim westlichen Feminismus scheint sie sich einer liberalen Variante zu bedienen, unter anderem, wenn sie sich positiv auf Demokratie, Freiheit und Fortschritt bezieht. Ihr zufolge sollen „der Frau die Inanspruchnahme einer vollständigen und gerechten Gleichstellung“ ermöglicht werden. Möglicherweise handelt es sich bei diesen und ähnlichen Stellen um Anleihen des Gleichheitsfeminismus, wie er sich unter anderem bei Simone de Beauvoir finden lässt. Wichtige Elemente, die wohl dem westlichen Feminismus entnommen wurden, sind die gleichberechtigte Partizipation, die Analyse von Patriarchat und patriarchalen Strukturen sowie ihre Verflechtung mit der Kultur. Die genaue Zuordnung der Theoriebezüge kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft werden. Das interessante ist jedoch, wie beide Teile, also westlicher und islamischer Feminismus, miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Die Patriarchatsanalyse kann im vorliegenden Kapitel als der theoretische Ausgangspunkt angesehen werden. Der erste Schritt ist also eine feministische Analyse kultureller Strukturen einer patriarchalen Ungleichheit. Dem Text zufolge prägt die beduinische Gesellschaftsstruktur der vorislamischen Zeit die sozialen, kulturellen und politischen Bereiche der arabischen Welt und nicht zuletzt ihre religiöse Sphäre. Letztere wiederum ist ausschlaggebend für mögliche feministische Veränderungen und steht diesen in seiner jetzigen Form als stärkster Opponent entgegen. Deswegen muss es also im zweiten Schritt wieder die Möglichkeit der erneuten Textauslegung (b­āb al-iğtihād), mittels Vernunft und durch spezialisierte Frauen geben.

Dieser Argumentationszusammenhang wird gleichzeitig gegen mögliche Gegenargumente abgesichert. So wird beispielsweise betont, dass dieses feministische Projekt „nicht nach Rechten [sucht], welche nicht mit ihren Gesellschaften übereinstimmen, sondern [es strebt] vielmehr nach einer Wiederherstellung von dem, was der Islam [den Frauen] an Rechten zuspricht.“

Im deutschsprachigen Kontext ist der Text somit nicht nur für Angehörige des islamischen Glaubens von Interesse, sondern ermöglicht dem gesamten deutschsprachigen Publikum einen Einblick in aktuelle Debatten um die Rolle der Frau in der arabisch-islamischen Welt. Er eröffnet den Blick auf eine moderne Variante des islamischen Feminismus mit transkulturellen Bezügen zum westlichen Feminismus, und lässt auch indirekt erahnen, wie sich der Diskurs um dieses Thema in Jordanien und darüber hinaus gestaltet. So fällt zum Beispiel aus einer deutschen Perspektive auf, dass Debatten wie der Queerfeminismus, welche bei uns in den letzten Jahren immer wichtiger wurden, in diesem Text keine Rolle spielen. Zudem wird ein mögliches Argument reaktionärer Gegner*innen abgewehrt, wenn eine angebliche Nichtübereinstimmung der Forderungen mit der eigenen Gesellschaft zurückgewiesen wird. Auch wird ersichtlich, dass ein sich auf den Islam beschränkender Feminismus weiterhin verbreitet zu sein scheint und zumindest einige Ideen des westlichen Feminismus in bestimmten Kreisen bekannt sind.

Eine Stärke des Textes ist es zu zeigen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit religiösen Strukturen im Islam nicht nur möglich, sondern auch Praxis ist, wobei er sich dennoch in offenkundigen Grenzen bewegt. Kurz verwiesen sei auf eine Vielzahl weiterer Auseinandersetzungen, welche zum Teil auch Religion als politischen Faktor zurückweisen oder auf Probleme verweisen, die die feministische Textauslegung theoretisch mit sich bringt.[3]

Gedanken zu Übersetzungsprozessen und der Übersetzung des Textes

Bei Übersetzungsprozessen stellt sich die Frage, wie das Original in einer völlig anderen Form und doch als Äquivalent wiedergegeben werden kann. Die Schwierigkeiten ziehen sich dabei durch mehrere Ebenen und ist zudem für jeden Text aufs Neue zu beantworten, eine universelle Antwort scheint es nicht zu geben. Dies liegt daran, dass der Übersetzungsprozess zum einen von der Ausgangssprache und der Zielsprache abhängt, zum anderen vom Stil des Originals, seinem Thema sowie von seinen kulturellen Bezügen und dem Zielpublikum. All dies gilt auch wiederum von der Übersetzung, allerdings muss für diese der Übersetzer zuerst ein Verständnis vom Text, dem Stil usw. erlangen und sich dann fragen, wie er dies entsprechend seiner Zielsetzung umwandeln kann. Häufig ist davon die Rede, dass für Begriffe, Ausdrücke und Phrasen eine passende Entsprechung in der Zielsprache gefunden werden muss. Dies gilt auch für die Struktur, den Stil und kann gar die kulturellen Bezüge umfassen. Jede Sprache hat ihr eigenes Vokabular und ihre eigene Struktur. Aber jede Sprache hat auch eine eigene Ästhetik, einen Klang, ihre Begriffe haben eine Geschichte und kulturelle Konnotationen und kulturelle Bezüge sind an ein kollektives Gedächtnis gebunden.

Im vorliegenden Fall ist das Original dabei in vielerlei Hinsicht relativ einfach, die Sprache und Struktur ist klar und an einem wissenschaftlichen Stil orientiert, die Autorin hatte das Buch als Dissertation verfasst. Dennoch wirft auch dieser Fragen auf, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie weit beim Übersetzen vom Original abgewichen werden darf, soll und muss. Die Übersetzung ist im Wesentlichen eine neue Form der Darstellung. Wichtige Texte werden nicht nur mehrfach übersetzt, weil die Übersetzer Fehler machen, sondern weil die Übersetzung notwendig eine Interpretation ist. Sie ist ein neuer Text für ein neues Publikum und verfolgt gegebenenfalls ein anderes Ziel als der Ursprungstext. Bei der vorliegenden Übersetzung wurde versucht, nah am Original zu bleiben, wobei es für mich überraschend war, wie sehr man selbst bei einem vergleichsweise klaren Text von diesem abweichen muss, um sein Äquivalent in der Zielsprache zu schaffen. Erst eine starke Anpassung mancher Begriffe und Ausdrücke ermöglicht ein Verständnis, einen Lesefluss und einen korrespondierenden Stil. Korrespondierend ist dabei vielleicht der zentrale Begriff. Der neue Text in einer anderen Sprache versucht in einer anderen Weise dasselbe zu erzielen, von dem man meint, dass es das Original erzielt. Beim vorliegenden Text ist das in erster Linie das Verständnis von einem Zusammenhang, von dem die Lesenden überzeugt werden sollen. Das jedoch nicht aufgrund einer demagogischen Rhetorik, sondern durch (wissenschaftlich erscheinende) Schlussfolgerichtigkeit.

Ein weiteres Problem bringt das Thema und die Zielgruppe mit sich. Der arabischsprachige Text nutzt eine Vielzahl an Begriffen, die sich auf den Islam und seine Traditionen beziehen, die einem arabischsprachigen Publikum (egal welcher Religiosität) bekannt sind. Das angesprochene muslimische Publikum kennt zudem in der Regel verschiedene Sichtweisen auf aufgegriffene Themen des Textes. Ein zentraler Begriff, welcher eine solche lange Geschichte in sich trägt, ist zum Beispiel iğtihād und ist somit beinahe nicht übersetzbar. Aber auch der Begriff der ğāhiliyya[4] hat gewisse Implikationen oder mögliche Deutungsebenen, die nicht ohne weiteres übertragen werden können. Hinzu kommt der zentrale Begriff fikr[5], der eigentlich völlig unproblematisch sein sollte, bei dem man sich aber durchaus fragen kann, wie er genau zu verstehen ist. Besonders schwierig erscheint die Frage, wie die im übersetzten Kapitel angeführten volkstümlichen Sprichwörter zu übersetzen sind.[6] Es wäre zum Beispiel möglich gewesen, im Deutschen allgemeinbekannte frauenfeindliche Sprüche als Ersatz zu wählen, welche bei den Leser*innen ähnliche Assoziationen und Emotionen wecken. Da die Übersetzung aber versucht, relativ nah an der ursprünglichen Struktur zu bleiben, um den wissenschaftlichen Anspruch zu vermitteln und, bot es sich auch bei diesen Stellen an, sie eher im Wortsinn zu übersetzen, um zumindest auf der Sachebene ein besseres Verständnis des beschriebenen Diskurses zu ermöglichen.

Mit einer nur teilweise muslimischen (oder Arabistik studierenden) Zielgruppe stellt sich also die Frage, wie die aufgerufenen Zusammenhänge klar vermittelt werden können. Dabei ist aber jede Klärung und jede Übersetzungsentscheidung auch eine Interpretation. Den Begriff ğāhiliyya mit un-islamisch zu übersetzen, bringt eventuell Klarheit und verdeutlicht die wertende Komponente, löst aber möglicherweise auch die Mehrdeutigkeit in eine nicht von der Autorin beabsichtigte Richtung auf.

Auf der Seite der Zielsprache gibt es das Problem der Konnotation von Begriffen auf gleicher Weise. Gerade der Begriff Diskurs verbindet sich unweigerlich mit Foucault oder Habermas und der von Hegemonie mit Gramsci. Ironischerweise gilt ähnliches für den Begriff Scharia (šarīʿa), welcher deswegen bewusst nicht als Idiom belassen, sondern als islamisches Recht wiedergegeben wurde.

Eine weitere Frage zum Thema Übersetzen, welche tiefergehend zu behandeln wäre, ist der Umgang mit auch für arabische Texte immer besser werdende KI-Tools. Zwar wurden diese bei dieser Übersetzung nur am Rande als ein nachrangiges von verschiedenen Hilfsmitteln konsultiert, doch muss sich künftig gefragt werden, ob eine Übersetzung zum Beispiel viel mehr bewusst interpretierend sein muss, um zu den von der KI erstellten Lösungen eine Ergänzung zu bieten. Andernfalls wird das Übersetzen nur noch eine Korrektur und Anpassung KI generierter Übersetzungen, was in manchen Bereichen schon der Fall zu sein scheint. Doch das ist an anderer Stelle zu verhandeln, an dieser bleibt nur noch ein Verweis auf den übersetzten Text:

Maysun al-Dabubi, Der islamische Feminismus in der zeitgenössischen arabischen Welt, zwischen Tradition und Moderne, Krit:Arab, Christian Kallwass (Übers.), https://kritarab.hypotheses.org/1563,(1. April 2025).

[1] Originaltitel: Maysūn Ḍayf Allāh Mūsā al-Dabawī, Al-Fikr al-nasawī al-islāmī fī al-ʿālam al-ʿarabī al-muʿāṣir bayna al-turāth wa-l-adātha (Amman: al-ān nāshirūn wa-mūazziʿūn, 2020).

[2] iğtihād, „(arab. ‚Anstrengung‘) bezeichnet in der Jurisprudenz eine weitgehend selbständige Auslegung von Koran und Hadith zum Zweck der Rechtsfindung – im Gegensatz zur Übernahme bereits bestehender Auslegungen aus autoritativen Rechtstexten (arab. taqlīd). Seit dem 10. Jh. plädierten viele muslim. Gelehrte für eine Schließung des ‚Tores des [ijtihād]‘, da die Grundtexte ausgeschöpft seien. Das hinderte aber spätere Reformisten wie die Wahhabiten nicht daran, weiter [ijtihād] zu betreiben, und im Rahmen des späteren Reformislams wird häufig auf (ijtihād) zurückgegriffen, um das islam. Recht an die Erfordernisse der neuen Zeit anzupassen.“ Bundeszentrale für Politische Bildung: ijtihād, in Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur, 6, hrsg. von Ralf Elger, Friederike Stolleis (München 2018), eingesehen 8.3.2025, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/islam-lexikon/281764/ijtihad/.

[3] Nur zwei Beispiele von vielen weiteren nicht erwähnten: Gashtili, Paria: Is an ‘Islamic Feminism’ Possible?: Gender Politics in the Contemporary Islamic Republic of Iran, Philosophical Topics 41, Nr. 2, 2013, S. 121–40. https://doi.org/10.5840/philtopics201341218; Moghadam, Valentine M.: Islamic Feminism and Its Discontents: Toward a Resolution of the Debate, Journal of Women in Culture and Society 27, Nr. 4, Juni 2002, S. 1135–1171. https://doi.org/10.1086/339639.

[4] “While Muslim exegetes in the premodern period commonly took the term jāhiliyya to denote the moral failings of the peninsular Arabs prior to the advent of the Qurʾān, contemporary Muslims of an activist bent have taken the term to refer to government systems, ideologies, or institutions that reflect human, rather than divine, pedigrees. […] Yet it was only in 1964, with the publication of his influential work Maʿālim fī l-ṭarīq (“Signposts on the road), that Quṭb made jāhiliyya the cornerstone of his Islamist ideology. In this work, Quṭb broke new ground in regarding not only Western societies but also the Muslim world of his time as wholly jāhilī in nature, not just partially ignorant, as Mawdūdī and Nadwī had claimed.” John Calvert, „Jāhiliyya, modern concepts“ in EI3, hrsg. von K. Fleet, G. Krämer, D. Matringe, J. Nawas und D. J. Stewart, Brill, 2015, eingesehen 22.03.2025, https://doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_68085.

[5] Übersetzbar mit Denken, Gedanke oder Idee.

[6] Auch der stilistische Bruch, der sich dadurch ergibt, dass diese in ihrer dialektalen Form wiedergegeben werden, ist schwer zu imitieren, nicht zuletzt, weil sich in der deutschen Sprache das allgemeine Verhältnis von Dialekt- zu Hochsprache anders darstellt als in der arabischen Sprache.

Christian Kallwass studiert Islamwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Vorgeschlagene Zitierweise: Christian Kallwass, „Islamischen Feminismus übersetzen,” Denkanstöße – Reflections, 23.05.2025, https://philosophy-in-the-modern-islamic-world.net/de/islamischen-feminismus-uebersetzen/, ISSN 2941-0347.