Denkanstöße

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Philosophie in der islamischen Welt der Moderne als interdisziplinäres Forschungsfeld

von:

Christoph Herzog

Ist Philosophie in der islamischen Welt der Moderne überhaupt ein eigenes Forschungsfeld?

Es könnte eine Reihe von Einwänden geben und zumindest eine (vielleicht allzu) einfache Antwort. Diese Antwort kann vorab gegeben werden: Ein Forschungsfeld ist etwas, mit dem sich Forschende wissenschaftlich beschäftigen. Da es ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes akademisches Netzwerk mit diesem Titel und zu diesem Thema gibt, ist die Frage quasi beantwortet: Es ist ein eigenes Forschungsfeld.

Diese Antwort liegt nicht auf der Objekt-, sondern auf der Metaebene. Sie ist selbstbezüglich und verweist auf eine zugleich wissenssoziologische und reflexive Perspektive. Mit anderen Worten, sie lenkt den Blick nicht in erster Linie darauf, ob sich Philosophie und MENA-Region, bzw. islamische Welt als Forschungsfelder definieren lassen und wie, sondern wer es tut und wie.

Es könnte epistemologisch als Antwort auf eine andere Frage aufgefasst werden, aber in der gegenwärtigen Diskussion spielt das Mitreflektieren der eigenen Positionalität nicht umsonst eine wichtige Rolle. Es ist eine späte Antwort auf das Problem des mannheimschen Paradoxons.

Selbstreflexivität hat viele Dimensionen. Die, um die es hier geht, beginnt mit der schlichten Frage, wer für das Forschungsfeld „Philosophie in der modernen islamischen Welt“ eigentlich disziplinär zuständig sein kann. Offenbar vor allem Menschen, die sich akademisch und disziplinär mit dem Nahen und Mittleren Osten beschäftigen und solche die mit Philosophie zu tun haben.

Grundsätzlich sind das zwei verschiedene Disziplinen; das Forschungsfeld ist damit also als interdisziplinär ausgewiesen. Interdisziplinäre Forschungsfelder sind häufig, aber nicht zwangsläufig disziplinär marginal, dieses aber ist es. Man sollte hinzufügen: marginal in Deutschland, in Europa oder im „Westen“.

Warum ist das so? Dazu im Folgenden nur ein paar skizzen- und thesenhafte Gedanken:

1. Für eine akademische westliche Philosophie, die ihren Fokus über die eurozentrische Begrenzung hinaus verbreitern will, ist die Philosophie in der islamischen Welt der Moderne nur eine von vielen philosophischen Regionen. Soweit sich Philosophie auf die Rezeption und Diskussion von Texten bezieht, ist eines der nicht zu vernachlässigenden forschungspraktischen Probleme die Vielsprachigkeit der Region: Arabisch, Persisch, Türkisch; und dies sind ja nur die klassischen Literatursprachen der islamischen Welt. Urdu und Indonesisch sind in der Gegenwart mindestens ebenso wichtig. Die Regionen, in denen letztere vor allem verwendet werden, liegen aber nicht im engeren Definitionsbereich der MENA-Region; dies nur nebenbei als kleiner Hinweis auf die systematische Unbestimmtheit und die historische Bedingtheit der aktuellen kulturräumlichen Terminologie.

2. Die Disziplin, die sich traditionell mit der islamischen Welt, ihren Sprachen und Kulturen auseinandergesetzt hat, ist die „Orientalistik“, jedenfalls ein Teil derselben. Diese Disziplin, die es heute in dieser Form und Bezeichnung gar nicht (mehr) gibt, zu erklären, ist nicht erst seit Edward Saids Orientalismuskritik ein Problem. Aus ihr sind aber Fächer wie Islamwissenschaft, Nahoststudien, Arabistik, Iranistik und Turkologie hervorgegangen, die im Lauf der Zeit das ursprünglich rein philologisch ausgerichtete Erbe der Orientalistik mit modernerer kulturwissenschaftlicher Methodik und einer selbstreflexiven epistemologischen Neupositionierung transformiert haben.

Diese wissenschaftlichen Disziplinen werden in Deutschland wissenschaftspolitisch als sogenannte „kleine Fächer“ kategorisiert. Ihre fachlichen Zuständigkeiten sind umgekehrt proportional zu ihren begrenzten institutionellen und personellen Ausstattungen. Sie werden als Disziplinen für alle möglichen kulturwissenschaftlichen Fragen im Zusammenhang mit der MENA-Region in der Verantwortung gesehen.

Philosophie ist selbstverständlich (nur) eine davon. Aber nicht nur die Philosophie der Moderne, sondern auch die klassische arabische Philosophie – nebst den vormodernen und modernen Literaturen sowie der gesamten Geschichte in islamischer Zeit und natürlich sprachwissenschaftliche Fragestellungen.

3. So betrachtet ist es also unmittelbar evident, warum das Forschungsfeld der Philosophie in der islamischen Welt der Moderne in Deutschland (und darüber hinaus im Westen) vergleichsweise marginal ist. Es gibt aber ein weiteres scheinbares Paradox zu bedenken. Die aus deutscher Perspektive „kleinen Fächer“, die sich mit Sprachen und Kulturen der islamischen Welt auseinandersetzen, sind global betrachtet überhaupt keine kleinen Fächer. In der Region selbst sind ihre Gegenstände Teil des akademischen Mainstreams. Nehmen wir als Beispiel die Türkei. Natürlich gibt es dort keine Orientalistik. Es gibt aber Turkologie (die sich auf die Sprachwissenschaft konzentriert), Türkische Literaturwissenschaft und die anderen Fächer der Humanities, die sich – soweit sie nicht explizit außertürkischen Inhalt haben wie etwa Anglistik –natürlich ganz intensiv mit Angelegenheiten der Türkei aus türkischer Perspektive beschäftigen (etwa Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie).

4. Wie ist es mit der Philosophie? In der Türkei und in zahlreichen anderen Ländern der MENA-Region ist Philosophie selbstverständlich ein akademisches Fach, in dem akademisches philosophisches Schrifttum verfasst wird. Aus der deutschen Sicht auf die Philosophie in der islamischen Welt der Moderne ist dieses Schrifttum also zugleich Primär- und Sekundärliteratur, ihre Verfasser und Verfasserinnen zugleich Teil des Forschungsfeldes und wissenschaftliche Partner. Die philosophische Literatur der MENA-Region in der Moderne ist entsprechend der postkolonialen Situation durch zwei Themenfelder dominiert: die westliche Philosophie der Moderne und die Philosophie der eigenen Tradition. Hinzu kommt aber zunehmend das Interesse an der eigenen modernen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert und ihrer Geschichte.

5. Die eigene Moderne wird dabei zunehmend in nationalen Bezügen gedacht. Mit anderen Worten, moderne Philosophie in Ägypten, Iran, Tunesien oder der Türkei interessiert sich zwar sehr für die vormoderne Philosophie in der islamischen Welt, aber sehr viel weniger für moderne Philosophie in anderen Staaten der MENA-Region. Das heißt aber, der geographische, bzw. kulturräumliche Zusammenhang, den die Terminologie MENA oder „islamische Welt“ suggeriert, ist im 21. Jahrhundert hier nicht mehr einfach als gegeben vorauszusetzen.

Wenn diese Skizze einigermaßen zutreffend ist, lässt sich daraus ziemlich klar das disziplinäre und institutionelle Dilemma des Forschungsfelds der Philosophie in der islamischen Welt der Moderne erkennen: Es liegt im Grunde in einem blinden Fleck der westlichen Perzeption, der seine Wurzeln in der europäischen Wissenschaftstradition hat, sichtbar genug, um als Defizit erkannt, aber scheinbar zu wenig sichtbar, um behoben zu werden. Niemand macht sich die Illusion, dass in Deutschland oder im Westen akademische und das heißt ja konkret: materielle Ressourcen für eine verstärkte Auseinandersetzung mit diesem Forschungsgebiet zur Verfügung stehen. Die Philosophie in der islamischen Welt ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Das ist gerade dann besonders bedauerlich, wenn man Eurozentrismus als ein tatsächliches epistemologisches Problem sieht. Dessen Überwindung scheint zum jetzigen Zeitpunkt aus eigener Kraft unrealistisch. Vielmehr gilt es interdisziplinäre Verbünde und Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen, die in gemeinsamer Anstrengung durch philosophische Schulung, Sprachkompetenzen, historische, Landes- und Kulturkenntnisse die – nicht zuletzt – von ‘westlichen’ Philosophien hochgehaltenen Prinzipien der Neugier, Selbst-Kritik und Universalität zu fördern.

Prof. Dr. Christoph Herzog ist Inhaber des Lehrstuhls für Turkologie an der Universität Bamberg.

 

Vorgeschlagene Zitierweise: Christoph Herzog, „Philosophie in der islamischen Welt der Moderne als interdisziplinäres Forschungsfeld,” in Denkanstöße – Reflections, 21.10.2022, https://philosophy-in-the-modern-islamic-world.net/philosophie-in-d…s-forschungsfeld/, ISSN 2941-0347.