Das Netzwerkmitglied Urs Gösken hat einen Beitrag publiziert im Sammelband Toleranz, herausgegeben von Dagmar Kiesel und Cleophea Ferrari. Der Artikel untersucht Wandlungen im Konzept von Toleranz in Theorie und Praxis in der islamischen Welt unter dem Einfluss von Reformbewegungen im späteren 19. und 20. Jahrhundert, allen voran in einschlägigen Gedichten des Literaten Muḥammad Ḥāfiẓ Ibrāhīm (1872 – 1932).
Viele der damaligen politischen und soziokulturellen Entwicklungen sind für die Frage der Toleranz deshalb entscheidend, weil im Zuge derselben das Staatsmodell der Monarchie mit ihrer Tendenz zur Hierarchisierung der Gesellschaft und der Auffassung des Menschen als Untertan von Konzepten eines Gemeinwesens mit grundsätzlicher und konstitutionell verbürgter Rechtsgleichheit aller Angehörigen als Bürger herausgefordert wurde. Damit stellen sich auch Fragen wie etwa die nach dem Verhältnis zwischen Religion und Recht, Politik und Religion sowie nach der grundsätzlichen Gleichheit oder eben Ungleichheit der Religionen.
In einem ganz allgemeinen Sinne geht es um das Problem, wie der innere Zusammenhalt und die Einheit eines Gemeinwesens bei gleichzeitiger religiöser Diversität und daher Uneinheitlichkeit seiner Angehörigen gewahrt werden kann. In der Autokratie beruht die Einheit in der Uneinheitlichkeit darauf, dass allen Angehörigen des autokratischen Gemeinwesens prinzipiell derselbe Status als Untertanen zukommt. Im angestrebten Verfassungsstaat würde sie darin bestehen, dass allen Angehörigen prinzipiell derselbe Status als gleichberechtige Bürger zukäme.
Der Umbruchcharakter der Epoche und das Nebeneinander verschiedener Konzepte für das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften in einem Gemeinwesen werden in dem Artikel anhand einer Besprechung einschlägiger Gedichte des zeitgenössischen Literaten Muḥammad Ḥāfiẓ Ibrāhīm (1872 – 1932) exemplifiziert, der in Ägypten, bis 1914 nominell Teil des Osmanischen Reiches, lebte. Dieser Poet kann deshalb als repräsentative Stimme in der relevanten Publizistik seiner Zeit gesehen werden, weil er hinsichtlich der seinerzeitigen Reformthematik die Perspektive eines zwar nicht elitären, aber doch informierten und engagierten Beobachters einnimmt und viele seiner Dichtungen in den damals neuen Medien wie Tageszeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Wie so viele reformorientierte Zeitgenossen sieht Ḥāfiẓ Ibrāhīm für das Osmanische Reich die Staatsform der konstitutionellen Monarchie als Ideal vor. In dieser würde die Koexistenz der verschiedenen Religionsgemeinschaften des Reiches im Rechtsrahmen der Verfassung geregelt. Zum anderen aber finden sich in Ḥāfiẓ Ibrāhīms Dichtung auch Anklänge an das autokratische Ideal, nach welchem der Monarch als von den Niederungen der Gesellschaft abgehobener Schlichter in Konflikten vermittelt und das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen als Untertanenpflicht anmahnen kann.