Seit über sechs Wochen protestieren die Menschen in Iran. Trotz massiver Repression fordern sie Ihre Rechte und ein Ende der Unterdrückung. Getragen wird diese landesweite Welle der Proteste von Frauen und Mädchen, die demonstrativ ihrer Kopftücher ablegen und damit nicht nur gegen den Zwangshijab protestieren, sondern auch für die Freiheit und ein würdevolles Leben der Menschen in Iran. Durch ihre mutigen Protestaktionen produzieren sie Bilder, die die Proteste immer weiter beleben. In welchem Zusammenhang steht diese Revolution der Bilder mit der Befreiung der Körper und dem Charakter der Revolte, die bereits jetzt als feministische Revolution bezeichnet wird? Die Autorin des folgenden Beitrages, nähert sich – ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung in den ersten Tagen der Proteste –  dieser Frage in einer phänomenologischen Reflexion, die wir hier erstmals in deutscher Übersetzung publizieren.

Eine figurative feministische Revolution in Iran. Körper und ihre Bilder in reziproker Interaktion.

Frauen im Spiegel ihrer Geschichte

Für Zhina, Niloofar, Elaheh, Mahsa, Elmira und für diejenigen, deren Namen ich noch werde nennen müssen.[1]

Von L.[2]

Tanzen um ein Lagerfeuer in Bandar AbbasTanzen um ein Lagerfeuer in Bandar Abbas[3]

 

Der folgende Essay ist ein Versuch, das Verstehen einer Anschauung zu ermöglichen, die aus der Konfrontation mit einer Kluft hervorging: Einer Kluft zwischen dem Betrachten von Videos und Bildern der Proteste und der (eigenen) Präsenz auf der Straße. Es ist ein Versuch, den Kurzschluss[4] zu erklären, der sich in diesem Historischen Augenblick, diesem Momentum, in eben jener Kluft zwischen diesen Beiden Domänen – dem virtuellen Raum und der Realität der Straße – aufgetan hat.

Zu Beginn möchte ich betonen, dass das, was ich selbst (auf der Straße) erlebt habe und was mich inspiriert hat, nicht notwendigerweise verallgemeinerbar ist. Ich lebe in einer kleinen Stadt die sich hinsichtlich der örtliche Situiertheit, innerhalb derer üblicherweise Proteste stattfinden, von großen Städten ja sogar anderen kleineren Orten unterscheidet und genau das kann einen erheblichen Einfluss auf die Form von Versammlungen und die je aktuelle Protestsituation haben. Dieser Schreibakt soll, diese Situation nicht für den Zweck einer universalen Schlussfolgerung verallgemeinern, sondern er dient lediglich der Deutung genau dieser einen individuellen Situation und der Wirkung, die sie, indem ich mich in ihr befand, auf mich hatte.

Die Proteste erreichten meine Kleinstadt innerhalb weniger Tage nach ihrem Ausbruch in Kurdistan und zwei Tage nach ihrem Ausbruch in Teheran. Mehrere Tage lang sah ich Videoaufnahmen von den Straßenprotesten der Menschen, ihre ergreifenden Lieder und die Bilder und Figuren der Demonstrantinnen. Einige Tage später befand ich mich schließlich selbst inmitten eines Straßenprotests. Die ersten Momente des „Da“-Seins, auf der Straße, umgeben von Demonstrant:innen, waren äußerst seltsam. Nur einen Tag zuvor hatte ich diese Demonstrant:innen von einem Handybildschirm aus beobachtet, ihren Mut – mit Kloß im Hals und weinend – bewundert. Ich schaute mich um und versuchte, die Bilder von der Straße mit der Realität auf der Straße zu synchronisieren. Was ich aus erster Hand sah, war dem, was ich zuvor auf dem Bildschirm gesehen hatte, sehr ähnlich, aber es gab eine Kluft zwischen dem Zuschauer-Ich und dem Ich-auf-der-Straße, die ich erst nach einigen kurzen Momenten erkannte. Für mich war die Straße nicht mehr ein Ort der Angst, sondern ein ganz gewöhnlicher Raum [fazā-ye ʿāddī]. Alles war normal, selbst als die Sicherheitskräfte uns mit ihren Schlagstöcken, Kugeln und Tasern angriffen. Ich weiß nicht, wie ich das Wort „gewöhnlich“ erklären soll oder welch besseres Synonym ich verwenden könnte. Die Distanz zwischen mir und den Bildern, denen ich mich in meinen Wünschen annähern wollte, war nun sehr klein geworden. Ich selbst war diese Bilder. Ich sah mich plötzlich in einem Kreis, der Kopftücher in Flammen aufgehen ließ, es war, als ob wir seit jeher Kopftücher verbrannt hätten. Dann kam ich plötzlich wieder zu mir und realisierte, dass ich nur wenige Augenblicke zuvor geschlagen worden war.

Verprügelt zu werden war in der Wirklichkeit viel gewöhnlicher als das, was ich auf dem Bildschirm gesehen hatte. Von dem Schmerz, den ich mir beim Betrachten der Videos vorgestellt hatte, war keine Spur. Der Körper ist „warm“ während er geschlagen wird, und wir empfinden den Schmerz nicht so, wie wir es vielleicht erwarten. Wir hatten zahlreiche Videos von Körpern gesehen, die von Pellets durchlöchert waren, aber selbst diejenigen, die von diesen Pelltes getroffen worden waren, sagen, dass selbst diese Kugeln letztlich nicht so schmerzhaft oder furchteinflößend sind wie erwartet.

Auf der Straße denkst Du in einem Moment, dass Du rennen solltest und stellst fest, dass Du bereits begonnen hast wegzulaufen. Du sagst zu Dir selbst, dass Du jetzt eine rauchen musst und stellst fest, du bist „da“ unter all den anderen Menschen und rauchst eine Zigarette.[5] Der Körper hat sich schneller als die Wahrnehmung bewegt, ohne dass sich beide synchronisieren konnten. Ich glaube sogar, dass der Tod für einen Menschen, der das „Auf-der-Straße-sein“ erfahren hat, nicht (mehr) beängstigend ist. Die Erfahrung der Straße setzt den Gedanken an den Tod aus, genau darin liegt die Wurzel der Angst und das ist es, was aufseiten der Beobachter Angst auslöst: Personen zu sehen, die bereit sind zu sterben. Wir sind bereit zu sterben. Nein, es ist letztlich nicht einmal eine bewusste Bereitschaft. Wir sind vom Denken an den Tod befreit. Wir haben den Tod hinter uns gelassen, in der Intimität der Konfrontation mit unseren Ängsten sind wir ihnen in der Wärme des Körpers bereits vorausgeeilt, in die Domäne der Wirklichkeit.

Einmal, als ich in einer Konfrontation mit Sicherheitskräften durch die Menge der Demonstrierenden flüchten konnte, machte mir die Menge jubelnd Mut: Als ich spät in der Nacht nach Hause ging, zeigten mir vorbeifahrende Motorradfahrer immer wieder ein Siegeszeichen oder rief mir „damet garm“ (Bravo)[6] zu.  Ich war noch ganz in den Moment eingetaucht. Der Grund für das Lob und die Bravo-Rufe war mir nicht ganz klar. Als ich am nächsten Morgen meine blauen Flecken im Spiegel betrachtete, zogen die Details der Konfrontation plötzlich an meinen Augen vorbei. Es war, als ob ich mich plötzlich an einen Traum erinnerte, von dem ich noch vor einem Moment nicht wusste, dass ich ihn geträumt hatte. Mein Körper hatte sich abgekühlt und mein Verstand hatte sich an die Arbeit gemacht. Ich war nicht nur geschlagen worden, sondern hatte mich auch gewehrt und selbst ein paar Schläge und Tritte ausgeteilt. Mein Körper hatte unbewusst das ausgeführt, was ich andere Demonstranten hatte tun sehen. Ich erinnerte mich an die erstaunten Gesichter der Sicherheitskräfte, die versuchten, mich zu überwältigen. Meine Erinnerung hatte erst jetzt, nach einer gewissen Zeitspanne, meinen Körper erreicht.

Für mich war der spürbare Unterschied zwischen diesem Protest und den Protesten, die ich zuvor erlebt hatte, der Übergang von der „Massenbewegung“ zur „Schaffung einer Situation (eines Augenblicks/eines Moments)“. Gruppe von Demonstrant:innen versammelten sich, jeweils in der kurzen Zeit vor dem Eintreffen der Repressionskräfte, um eine Situation herum, um etwas zu erschaffen. Unter dem Einfluss der Situation der Straße und der umliegenden Gassen löste sie sich, beim Eintreffen der Einsatzkräfte nach der Konfrontation wieder auf, um sich dann an einem anderen Ort neu zu formieren. Diese Situationen entstanden, als die Protestierenden eine Straße blockierten, eine Mülltonne mitten auf der Straße verbrannten und den Verkehr zum Stillstand brachten. Innerhalb dieser kurzen Zeitfenster versuchte die aktive, wenn auch nicht allzu große Menschengruppe schnell, eine Situation zu schaffen. „Jetzt verbrennen wir die Kopftücher.“ Eine Frau sprang auf einen Müllcontainer, wandte sich den Autos zu und hob ihre Faust und verharrte einige Sekunden lang in dieser Figur. Eine andere Frau sprang auf ein Auto und schwenkte Kopftuch in der Luft. Einige Frauen mittleren Alters blieben von Anfang bis Ende beim Kern der Gruppe und setzten sich schnell in Bewegung, um Menschen zu befreien, wenn sie verhaftet werden sollten.

Alle wollten sich der Masse der Bilder anschließen, die sie in den Protestvideos der vorangegangenen Tage und von Menschen in anderen Städten gesehen hatten. Nur wenige Menschen riefen in diesen Momenten Slogans. Dieser „Wunsch“ (meyl), „dieses Bild“ (taṣvīr) zu werden, dieses Bild des Widerstands, das die Menschen in meiner Stadt in den vergangenen Tagen gesehen hatten, war für mich deutlich greifbar (mašhūd). Im Folgenden möchte ich durch die Deutung genau dieses Wunsches, die Frage beantworten, was diese Protestbewegung zu einer feministischen Revolution macht.

Wie ich schon schrieb, sind diese Proteste meiner Ansicht nach nicht massen-, sondern situationszentriert, nicht slogan-, sondern figurenzentriert. Jede/r, und wie wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, wirklich jede/r, „ist fähig“ selbst eine unglaubliche, radikale Situation des Widerstands zu schaffen, die den Betrachter in Erstaunen versetzt. Der Glaube an dieses „ich kann“, an diese Fähigkeit, hat sich inzwischen sehr weit verbreitet. Jede weiß, dass sie mit ihren Figuren des Widerstands eine unvergessliche Situation schafft. Die Menschen, vor allem die Frauen – diese so standhaften und unnachgiebigen Genossinnen ihrer eigenen Wünsche – gehen entschieden dieser neuen Leidenschaft nach, und diese Leidenschaft erzeugt eine immer länger werdende Kette des Ansporns des Wunsches, immer weitere Figuren und Situationen des Widerstands zu erschaffen: Ich möchte diese Frau sein, die diese Widerstandsfigur verkörpert, die Frau, die ich auf dem Foto gesehen habe, und auch ich erschaffe eine Figur. Diese Figuren waren im Unbewussten der Protestierenden bereits vorhanden, ohne dass sie jemals eingeübt worden wären, es war beinahe so als ob sie diese bereits seit Jahren praktizierten. Diese Figur des Widerstands, dieser in Bildern festgehaltene Körper, wird in wiederum in den folgenden Gliedern der die Leidenschaft anspornenden Kette zu einem Anstoß für den Wunsch anderer Frauen, Figuren zu erzeugen. Welch Sehnsüchte wurden in diesen Tagen aus dem Gefängnis der Körper, unserer Frauenkörper, freigesetzt.

Ich möchte den Kraftvektor, der beispielsweise bei den Protesten von 2009 eine beachtliche Menschenmasse mobilisierte,[7] diesen Knotenpunkten des Ansporns, diesen zahlreichen und dezentralen Punkten der Stimulation auf der Straße, gegenüberstellen. Wie der weibliche Orgasmus sind diese Stimulationspunkte weder fokussiert noch auf einen Punkt im Körper/auf der Straße beschränkt. Wenn ich diesen Aufstand als feministischen Aufstand bezeichnen will, muss ich nach etwas suchen, das über den Ausgangspunkt der Proteste, den Slogan „Frau, Leben, Freiheit“, und den Aufruf von Aktivistinnen im Lande zur ersten Versammlung hinausgeht. Was diesen Aufstand in einer weiblichen und feministischen Form erweitert hat und nun die Sehnsüchte der Frauen in der ganzen Welt weckt, sind diese pluralen, figurativen Stimulationspunkte der protestierenden Körper: Sich in diese Figuren zu verwandeln gehört zu den greifbaren Wünschen derer, die an den Protesten teilnehmen, es ist nicht mehr möglich, auf die Straße zu gehen, ohne die Figur eines dieser ungehorsamen, rebellischen, widerständigen Körper zu übernehmen. Sei es auf dem Dach eines Autos, auf einem Abfallcontainer, bei der Verbrennung eines Kopftuchs, bei der Befreiung einer/s festgenommenen Protestierenden oder bei der trotzigen Haltung gegenüber den Repressionskräften.

Die Bilder, die wir Frauen von anderen Frauen im Widerstand gesehen haben, haben uns ein neues Verständnis für unsere Körper vermittelt. Ich denke, dass die Einzigartigkeit dieses feministischen Widerstands und sein figurativer Charakter dazu geführt haben, dass von Anfang an eher Screenshots und Fotos als Videos ikonisch wurden. Es wurden massenhaft Fotos veröffentlicht, die uns stolz machten und sich schnell in unser kollektives Gedächtnis einbrannten, so dass man die Chronologie dieses Aufstandes durch eine Geschichte der täglich veröffentlichten Bilder schreiben kann. Fotos, die diesen Aufstand anregten und vorantrieben: Das Foto von Zhina [Mahsa] Amini auf dem Krankenhausbett. Das Foto von Zhinas Verwandten, die sich in Trauer im Krankenhaus umarmen. Das Bild der kurdischen Frauen auf dem Friedhof von Aychi, die ihre Kopftücher in der Luft schwenkten. Was wollen wir von diesem Gesamtgeschehen letztlich sehen: Den Moment, in dem die Kopftücher vibrierend und kreisend in der Luft schweben. Das Foto von Zhinas Grabstein. Die Figur der fackeltragenden Frau auf dem Keshavarz-Boulevard. Die Figur der Frau, die allein mitten auf der Straße dem Wasserwerfer auf dem Vali Asr Platz gegenübersteht. Die Figur der sitzenden Frau. Die Figur der stehenden Frau. Die Figur der Frau, die in Tabriz ein Schild trägt, Auge in Auge mit den Repressionskräften. Die Figur der Frau, die ihr Haar zusammenbindet. Das Bild des Tanzkreises um ein Lagerfeuer in Bandar Abbas. Und so viele andere.

Kurdische Frauen auf dem Aychi-FriedhofKurdische Frauen auf dem Aychi-Friedhof

Was ist es, das einem Foto im Vergleich zu einem Video diese erstaunliche Motivationsskraft verleiht? Die im Bild eingeschlossene Zeit. Diese im Bild eingeschlossene Zeit verdichtet das Bild, macht es zu einem Träger der gesamten Geschichte, in der dieser Körper unterjocht wurde. Der Aufstand der Frauen in Iran ist ein fotozentrierter Aufstand. Was ist es, das diese feministische Spur verlängert und sie nicht verschwinden lässt? Nach Zhinas Namen, nach „Frau, Leben, Freiheit“, während das Ausmaß der Niederschlagung so groß ist, dass sich Menschenmengen oft gar nicht erst formieren und die Proteste nicht um Slogans kreisen, sind es die Figuren des weiblichen Widerstands, die diesen Aufstand weiterhin zu einem feministischen Aufstand machen. Diese gefangene Zeit macht eine lineare Geschichtserzählung problematisch und hebt stattdessen eine „Topologie der Situation“ hervor; die Gesten, die Momente und die Mikrokämpfe, die wir jeden Tag kämpfen. „#Für“ diesen Moment und all diese Momente.[8] Nicht für diese allgemeine Erzählung, sondern für alles Kleine. Für diese flüchtigen Mikro-Momente, für ihr Wiedererlangen, für den Kloß im Hals, für die Angst, für die Aufregung, für das Wort, für den Augenblick, der bis jetzt andauert, der sich bis heute hingezogen hat, sich unter unserer Haut, unter unseren Nägeln, in jenem Kloß in unserem Hals versteckt hat. Vergangenheit als vollendete Gegenwart, das Tempus, die Zeit, der Fotografien ist die vollendete Gegenwart. Sie weckt Sehnsüchte, erweckt die Vergangenheit zum Leben, verlängert sie bis zum Moment vor dem Jetzt und übergibt sie in genau diesem Moment des Jetzt an den Marathon der Augenblicke: an den nächsten Moment, das nächste Foto und die nächste Figur.

Was diesen Aufstand in Wahrheit als feministisch auszeichnet, ist dieser figurenzentrierte Charakter; die Möglichkeit, Bilder zu schaffen, die nicht notwendigerweise die Intensität des Konflikts, die Grausamkeit der Repression oder den Ablauf der Ereignisse reflektieren, sondern vielmehr Träger der Geschichte der Körper sind. Ein Innehalten, ein Standbild, eine Synkope. Siehe diesen Körper und Betrachte die Gesamtheit dieser Geschichte: hier. Die Figur der fackeltragenden Frau ist, für sich genommen und ohne Bezug zu den Sekunden vor oder nach dem Augenblick, autonom und Trägerin der Geschichte. Die Geschichte dieses Körpers wird nicht in einem linearen zeitlichen Kontinuum auf einem Video erzählt, das Repression oder Konfrontation oder Aktion darstellen soll, sondern kristallisiert sich in einem revolutionären Augenblick. Ein Innehalten in dem Moment, in dem die Frau ihr brennendes Kopftuch in die Höhe hält und das Siegeszeichen macht. Die Bewegung der Augen entlang der Abmessungen des Bildes, das grelle Licht der Autoscheinwerfer hinter ihr, die erhobenen Hände, das lächelnde Gesicht des Mannes, der rechts neben ihr steht, die Bäume entlang der Straße. Eine Figur, ein Standbild. Das Vorher und Nachher dieses Moments in der Videoaufnahme ist hier nicht von Bedeutung, denn die Figur entsteht nicht in einem zeitlichen Kontinuum, sondern in einer dadurch geschaffenen historischen Synkope, in einem Innehalten. Genau dort, wo das Herz der Geschichte für einen Augenblick aufhört zu schlagen.

Diese Momente und Figuren sind in der Darstellung der Repressionsgeschichte der Frauenkörper autonom. Und das ist die Eigenheit, die diesen Aufstand von anderen unterscheidet. Der feministische Aufstand der Körper und Figuren. Der feministische Charakter dieser Proteste besteht in der Öffnung der Möglichkeit, diese figurativen Bilder zu schaffen. Diese ikonischen Bilder sind wechselseitig von dem Bestreben beeinflusst, den Raum mit eben solchen Bildern zu füllen. Ich habe diesen Wunsch, etwas darzustellen, selbst gesehen. Körper, die „diese“ Figur sein wollten, hatten gesehen, dass ihre Körper die Fähigkeit besaßen, diese Figur zu werden. Körper, die sich in Gefahr, sich in die Konfliktzone begaben, um diese Figur anzunehmen. In einer Zone, in der es nur wenige Möglichkeiten gibt, sich Raum zu nehmen, suchten sie die Gelegenheit, Momente des Widerstands zu schaffen.

Bilder von Frauen im Widerstand haben wir bereits zuvor gesehen, zum Beispiel von den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) in Syrisch-Kurdistan. Der Unterschied zwischen diesen Fotos und den Frauenfiguren bei den jüngsten Protesten besteht in der Gesichtszentriertheit ersterer gegenüber der Gesichtslosigkeit letzterer. Die Besonderheit der ersten Bilder in ihrer Bewaffnung und Kampfkleidung und der zweiten in der Alltagskleidung. Nahaufnahmen von schönen Gesichtern im Gewand des Widerstands (der Wunsch des Fotografen) sind Bildern von Figuren des Widerstands (der Wunsch des Subjekts) gewichen. „Ich möchte, dass du mich so siehst“: Bilder von unbedecktem Haar mit geballten Fäusten. Die Figur des Körpers auf Abfallcontainern und Autos.

Diese Figuren erinnern an Vida Movahhed und andere „Mädchen der Enqelab-Straße“.[9] Vida war, so scheint es, ein Wendepunkt in der Entwicklung von Darstellungen des Widerstandes iranischer Frauen. Ein Ausgangspunkt, weg von den auf Botschaften und Gesichter ausgerichteten Videos der „White Wednesdays“ – meist Selfies von Frauen, die auf der Straße gingen und etwas erzählten, um die Situation und ihre Wünsche zu erläutern.[10] Vida Movahhed wurde zu der verdichteten Figur all der Videos, die Frauen vor ihr hochgeladen hatten, in denen sie ohne Hidschab spazieren gingen. Im Gegensatz zu diesen Frauen war sie still, unbeweglich. Der Punkt des Übergangs vom Video zum Foto. Ein Übergang von der Schilderung eines alltäglichen Umstands zur Schaffung einer historischen Situation. Ein Übergang von einem Individuum, das über sich selbst und ihre Wünsche spricht, zu einer stummen, unbeweglichen Figur. Eine Figur des Widerstands. Hier hat sich das Bild der protestierenden Frau aus dem zeitlichen Kontinuum des Videos herausgezogen, ist aus der Darstellung der alltäglichen Umstände herausgesprungen und auf der dichten Bühne der historischen Performativität gelandet. Vida Movahhed, diese unbekannte Frau, war nicht eigentlich Vida Movahhed, sondern das Bild einer revolutionären Figur. Die Figur aller Frauen vor ihr und eine Anregung für Frauenfiguren nach ihr.

Vida Movahhed auf einen Stromkasten an einer belebten Kreuzung in der Enqelab-StraßeVida Movahhed auf einen Stromkasten an einer belebten Kreuzung in der Enqelab-Straße

In einem endlosen Kreislauf gehen Bild und Figur ineinander über. Bilder werden veröffentlicht und verbreitet, und sie wecken die Phantasie der Körper. Die Menschen gehen danach nicht mehr mit den Körpern, die sie sind, sondern mit den Körpern, die sie sein können und wollen auf die Straße. Mit ihrer eigenen Vorstellungskraft. Ihr revolutionärer Akt besteht darin, diese Vorstellungskraft zu verkörpern. In Wahrheit orientieren sich in dieser Verwobenheit von Bild und Straße Repräsentation und Realität aneinander. Traum/Repräsentation/Ausdeutung drängt sich der Realität auf: Das sich in dieses Bild Verwandeln und zugleich das Erwecken des Wunsches zu dieser Verwandlung in anderer Körper; die Kette der Bilder; „der Kurzschluss des virtuellen Raums mit der Straße“.

Frauen verbrennen Kopftücher in Sari, Iran.Frauen verbrennen Kopftücher in Sari, Iran.

Neben diesen individuellen Figuren wurden wir auch Zeugen von kollektiven Figuren. Der Kreis der Kopftuchverbrennung. Der Tanzkreis um das Lagerfeuer, der von Sari in andere Städte wanderte. Wir sehen die Wiederholung von kollektiven Figuren, ohne dass es möglich wäre, den Ort zu bestimmen, zu dem die einzelnen Versammlungen gehören. In den ersten Tagen der Proteste kursierte ein kurzes Video von einer kleinen Versammlung protestierender Frauen in Pāveh. Eine kleine und einsame Gruppe von Frauen, die sich vom Ende einer Straße kommend nähern. Diese kleine Gruppe, deren Zusammenkommen höchst gefährlich erschien, schien mir den Frauenversammlungen in Afghanistan sehr ähnlich zu sein. Diese historische Situation bringt zwei Bilder zusammen, vereint zwei Kollektive.

Der Grabstein von Zhina [Mahsa] Amini. Das Bild wurde von der Journalistin Elaheh Mohammadi aufgenommen, die neben anderen Journalist:innen, die über Zhina [Mahsa] Amini berichteten, immer noch inhaftiert ist.

Wie kommt es, dass diese speziellen Figuren aufflammten (anstatt Fotos zu sein, die „nur“ aufgenommen wurden)? Die Figuren flammten auf, weil sie ein historischer Spiegel der Frauen waren. Ich denke, dass anstelle der ursprünglichen Aussage „Ich hätte auch Zhina sein können“, weckte das Bild der fackeltragenden Frau auf dem Auto den intensiven Wunsch: „Ich möchte auch diese Figur sein.“ Der Wunsch des in-Erscheinung-Tretens als diese Figur. Und es war eben diese Figur, die nicht nur die Sehnsucht weckte, sondern die Körper der Frauen geradezu zum Selbtsausdruck bewegte und dazu den Rost von den ihnen gegenüberstehenden Spiegel wegzupolieren. Diese Sehnsucht, auch wenn sie nur durch ein Bild entfacht wurde, wandelte sich durch eine historische Vermittlung, die der Körper in sich trug, zu einer revolutionären und blühenden Leidenschaft. Diese figurative Sehnsucht ist das Kennzeichen des feministischen Aufstands. Das Hervorbrechen einer niedergedrückten Geschichte. Die Geburt eines Körpers, mit dem wir seit Jahren schwanger gingen.

Die Figuren, die wir zuvor von bekannten politisch aktiven Frauen gesehen hatten, verhinderten das Aktiv-werden von politischer Wirkmacht und ihre Verbreitung, weil sie die Gesichter und Namen der Aktivistinnen in den Vordergrund stellten. Gesichter und Namen kappen die Macht der Figur, das Begehren anderer Frauen zu wecken, weil sie die Situation dieser Figur im Vergleich zur allgemeinen Situation der Frauen anders und besonders machen. Jetzt hat sich die Figur von den Fesseln des Gesichts befreit. Sie ist eine allgemeine, gesichtslose Figur, bedeckt mit einer Maske, aus Sicherheitsgründen ausgewischt, ein Bild, das von hinten aufgenommen wurde, anonym und unerkennbar. Der politische Körper der Frauen zirkuliert nun auf der Straße.

Vom schönen Körper zur inspirierenden Figur. Vom Körper, der in der Schönheit gefangen ist, zum Körper, der in der Figur befreit ist. Es handelt sich nicht um eine Verwandlung des Selbst in einen idealen Körper, sondern um die Schaffung einer neuen Figur des Widerstands, jedes Mal und in jedem einzelnen Körper. Während der Körper durch frühere Figuren, deren Bilder er im virtuellen Raum gesehen hat, angespornt wurde und sich von ihnen inspirieren lässt, erschafft er eine neue Figur und inspiriert wechselseitig zukünftige Figuren. Die Kette von Ansporn und Inspiration. Diese Figur hat die Frauen aus der Gefangenschaft im Körper und seiner historischen Unterwerfung befreit und den Körper in ihrem Gefolge aufblühen lassen. Ein Körper, der erst jetzt die Möglichkeit, die Schönheit seines eigenen Widerstands entdeckt hat: Ein neues Erblühen in Mündigkeit.

[1] Dieser Essay wurde ursprünglich auf Persisch am Mittwoch, den 28. September, auf harasswatch.com veröffentlicht. Der Essay wurde anschließend zweimal ins Englische übersetzt, am 05. Oktober auf jadaliyya.com und danach am 15. Oktober auf e-flux.com. Die hier vorliegende Übersetzung wurden von Mostafa Najafi und Roman Seidel anhand des Persischen Originals und mit Bezug zur Englischen Übersetzung von Ali Doostdar angefertigt.

[2] In Bezug auf den Verfasser:innen-Namen dieses Beitrags: Meine Liebe hat einmal auf einen Buchstaben angespielt: „L“, der sich vielleicht auf mich bezog, vielleicht aber auch nicht. Vertieft in die Erfahrung dieses revolutionären Raums, der der Erfahrung der Liebe so ähnlich ist, möchte ich mein ständiges Zögern bezüglich der Referenz dieses L beiseiteschieben und es mir stattdessen zusammen mit der Geste meiner Liebe zu eigen machen. Meine Unterzeichnung dieses Aufsatzes als L ist eine revolutionäre Aneignung der Geste meiner Liebe. Diese Namensgebung schützt mich nicht nur vor der Bedrohung durch die Regierung, sondern befreit mich auch in meiner Vorstellung von Liebe, in dem Moment, in dem Namen zu Symbolen geworden sind [eine Anspielung auf Mahsa Aminis Namen und den oft wiederholten, fast unmöglich zu übersetzenden Aufruf „Dein Name ist ein Symbol geworden“].

[3] Quelle der Fotos: jadaliyya.com und e-flux.com.

[4] Ein elektrischer Kurzschluss in einem Stromkreis ist eine ungewöhnliche Verbindung zwischen zwei Knoten mit unterschiedlichen Spannungen, durch die ein höherer Strom als erwartet fließt. Bei der Analyse von Stromkreisen ist ein Kurzschluss eine Verbindung, die zwei Knoten mit unterschiedlichen Potenzialen auf gleiches Potenzial bringt. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Verbindungsweg zwischen zwei Teilen eines Stromkreises, der einen Strom verursachen kann, der tausendmal höher ist als das, was man normalerweise von einem Stromkreis erwartet.

[5] Dieser Satz stammt aus einem Brief, den ich an meine Geliebte schrieb, nachdem ich ein virales Video von der Öffnung der Tore des Qasr-Gefängnisses und der Befreiung der politischen Gefangenen Monate vor der Revolution von 1979 gesehen hatte. Ich schrieb dies am 2. August 2020:

„Heute Abend habe ich das Video von der Befreiung der Gefangenen im Internet gesehen. Wieder und wieder. Ich wünschte, ich könnte derjenige sein, der dieser Frau die Haare aus der Stirn streicht. Wie kann man Freude empfinden? Was für eine Gratwanderung. In dem Moment, in dem man so etwas wie Inspiration im Herzen spürt, denkt man, dass man glücklich ist, aber sobald man den Kopf hebt, sieht man, dass man ein Mensch ist, der einmal glücklich war, und jetzt macht die Unfähigkeit, dieses flüchtige Gefühl zu verstehen, alles unverständlich. In diesem Video war so viel Freude zu sehen. Was für eine Atmosphäre. Du brauchst nichts zu sagen. Es genügt, sich die Haare aus der Stirn zu streichen, um sie zu erkennen und sich zu vergewissern, dass sie da ist, und du bist es, der ihr Gesicht enthüllt.

Bist du es?

Ja, das bin ich.

Ein Gesicht für alle. Ein befreites Gesicht, dessen Gefühle nicht unterdrückt wurden, das weint und lacht. Sie weint, während sie lacht. Eine Art emotionale Attacke. Ein Gesicht, das noch keine Freude oder eine veränderte Situation erkennen kann. Der Moment, in dem alles im Fluss ist. Der Augenblick der Revolution. Kein Moment davor und kein Moment danach. Die spannungsgeladene Situation, die Situation des Werdens. Wie kann man jemanden in der Masse erkennen, der sich im Moment der Revolution befindet? Wenn jedes Organ des Körpers über seine Selbstwahrnehmung und die Art und Weise, wie es gelernt hat zu sein, hinausgeht. Indem man das Haar beiseite streicht und eine seltene Erinnerung sucht. Ein schwarzes Muttermal neben dem rechten Ohr. Dann sagst du dir, dass du dir eine Zigarette anzünden sollst, und du siehst dich dort, wie du eine Zigarette rauchst. Du sagst: Ich sollte jetzt gehen, und du siehst dich selbst in der Masse. Du warst die ganze Zeit da.“

Unter diesen revolutionären Bedingungen mache ich diesen privaten Brief nun zum Allgemeingut 🙂 Dieser Brief gehört nicht mehr nur meiner Liebe, sondern all den Körpern auf der Straße, die ich so sehr geliebt habe.

[6] Ein im Persischen sehr verbreiteter umgangssprachlicher Ausdruck, der als anerkennende Bestätigung einer Handlung gegenüber dem Ausführer der Handlung ausgesprochen wird mit der Absicht die Angemessenheit und Wichtigkeit der Handlung zu bekräftigen. Wörtlich: möge Dein Atem warm bleiben = Lebe weiter und mache weiter so. Im vorliegenden Text ist eine Relation zur Symbolik des „warmen Körpers“ gegeben. (Übersetzer)

[7] Bezug Proteste nach dem offenkundigen Wahlbetrug der Ahmadinejad 2009 eine zweite Amtszeit bescherte, unterschiedliche Quellen sprechen von mehreren 100.000 bis zu 2.000.000 Protestierenden in Teheran. (Übersetzer)

[8] „#barayeh“ bezieht sich auf einen Twitter-Trend, bei dem Tausende von Menschen über all die Dinge schrieben, die sie motivierten, die Proteste zu unterstützen. „Für“ die Studenten, denen das Recht zu studieren verweigert wurde. „Für“ die ermordeten Intellektuellen. „Für“ die Freude, die der Kriegsgeneration verwehrt wurde. „Für“ die Arbeiter der Zuckerrohrfabrik Haft Tappeh. Und Tausende andere „für“. Kurz nach Beginn des Trends nahm der junge Sänger Shervin Hajipour ein Lied mit dem Titel „For“ (barayeh) auf, dessen Text hauptsächlich aus paraphrasierten Twitter-Posts bestand. Sein Musikvideo war ein sofortiger Erfolg. Kurz darauf wurde er von den Behörden verhaftet, aber sein Lied ist inzwischen zu einer der Hymnen des Aufstands geworden. (vom 1. englischen Übersetzer)

[9] Vida Movahhed ist eine Frau, die mit ihrer stillen Aktion gegen die Hijab-Pflicht eine Welle ähnlicher Aktionen von Aktivistinnen auslöste, die als „Girls of Enqelab [Revolution] Street“ bekannt wurden. Ende Dezember 2017 kletterte Movahhed auf einen Stromkasten an einer belebten Kreuzung in der Enqelab-Straße, band ihr weißes Kopftuch an einen Stock und hielt es in die Höhe. Sie wurde verhaftet und später zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Während sie danach weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwand, ist ihre Pose mit dem Kopftuch am Stock zu einer visuellen Ikone des zivilen Ungehorsams von Frauen geworden. (vom 1. englischen Übersetzer). Für einen Hintergrundartikel dazu siehe hier.

[10] „White Wednesdays“ war eine 2017 von Masih Alinejad ins Leben gerufene Internetkampagne, bei der Frauen Selfie-Videos von sich beim Ablegen des Hidschab an öffentlichen Orten in Iran aufnahmen. Sie schickten die Videos an Alinejad, die sie dann im Internet verbreitete. (vom 1. englischen Übersetzer)