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Die Revolte als Möglichkeitsraum

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Die Revolte als Möglichkeitsraum

Reflexionen zum aktuellen Freiheitskampf in Iran

 

Roman Seidel
 03. November 2022

 

Revolten können, rückwärtig betrachtet, als entscheidende Weichenstellungen im sogenannten Lauf der Geschichte verstanden werden. Im Moment ihres Geschehens aber ist die Revolte ein präsentisches Phänomen, das innerhalb eines unbestimmten, aber begrenzten Zeitfensters einen Möglichkeitsraum öffnet, der im Augenblick dieses Momentums (zwischen Revolte und erfolgter Revolution oder zwischen Revolte und deren Niederschlagung) alle historischen Kausalitäten und jegliche teleologische Betrachtung der Geschichte/der Ereignisse außer Kraft zu setzen scheint. In Iran hat sich ein solcher Möglichkeitsraum geöffnet; seit nunmehr sieben Wochen gehen die Menschen, allen voran die Frauen, auf die Straße und halten unter Einsatz ihres Lebens diesen Raum offen. Unter dem Wahlspruch „Frau, Leben, Freiheit“ (zan, zendegī, āzādī) haben die Proteste eine inzwischen ungeahnte Dynamik entfaltet, die bereits jetzt, auch wenn das Regime noch steht, tiefgreifende Veränderungen bewirkt haben und sogar von einer feministischen Revolution die Rede ist. Wie kann man diesen unbedingten kollektiven Willen der Bewegung erklären, welche Bedeutung haben dabei die Vorreiterrollen von Frauen und Jugendlichen in der Bewegung, was hält diese Bewegung zusammen und wie lässt sich deren weltpolitische Dimension begrifflich reflektieren?

Als sich vor 43 Jahren schon einmal eine Revolution in Iran ereignete, reiste der Philosoph Michel Foucault nach Teheran und versuchte in seinen „Ideenreportagen“ und einigen darauffolgenden Texten nicht nur die Ereignisse, die zur iranischen Revolution von 1979 führten, zu verstehen, sondern auch durch deren Beobachtung selbst Begriffsarbeit zu leisten.[i] Viele seiner Beobachtungen sind auch heute aktuell, mache passen wiederum weniger auf das heutige Geschehen. Im Folgenden soll es nicht darum gehen Foucaults Schriften zu Iran, für die er viel Kritik und Häme hat einstecken müssen, neu zu evaluieren, das haben in jüngerer Zeit andere getan.[ii] Hier soll lediglich der Versuch unternommen werden, ausgehend von zwei Begrifflichkeiten, die Foucault scheinbar beiläufig in seinen Texten thematisiert, „kollektiver Wille“ und „politische Spiritualität“, eine Reflexion der aktuellen Ereignisse vorzunehmen.

„Frau – Leben – Freiheit“ als positiv geladener kollektiver Wille

Der unbedingte Wille, sich zu widersetzen, die unterdrückerische politische Ordnung nicht mehr zu akzeptieren und in einzelnen und kollektiven Aktionen der Selbstermächtigung und Befreiung trotz massiver staatlicher Gewalt ein neues Gesellschaftsnarrativ auf die Straße zu bringen, ist das, was derzeit alle, die ihren Blick auf Iran richten, in Erstaunen versetzt. Auch Foucault begegnete diesem kollektiven Willen in Iran nicht als Begriff oder abstrakte Idee, sondern als ein präsentisches Phänomen auf der Straße.

Als ich kurz nach den September-Massakern [8.9.1978] in den Iran kam, sagte ich mir, die Stadt müsse in Angst und Schrecken versetzt sein, da doch gerade viertausend Menschen gestorben waren. Ich kann nicht behaupten, auf glückliche Menschen getroffen zu sein, aber ich fand keine Angst, sondern großen Mut oder besser jenes Gefühl, das Menschen empfinden, wenn die Gefahr zwar nicht vergangen, aber überwunden ist. In ihrer Revolution hatten sie die Angst vor den Maschinengewehren überwunden, die alle stets vor Augen hatten. (…) Zu den charakteristischen Merkmalen dieses revolutionären Ereignisses gehört auch die Tatsache, dass es einen absolut gemeinschaftlichen Willen [volonté absolument collective][iii] aufscheinen lässt – und dazu hatten in der Geschichte nur wenige Völker Gelegenheit. Der gemeinschaftliche Wille ist ein politischer Mythos, mit dessen Hilfe Rechtswissenschaftler oder Philosophen Institutionen und dergleichen zu analysieren oder zu rechtfertigen versuchen. Er ist ein theoretisches Instrument. Den »gemeinschaftlichen Willen« hat noch niemand gesehen, und ich selbst sah im gemeinschaftlichen Willen so etwas wie Gott oder die Seele, denen man niemals begegnet. Ich weiß nicht, ob ihr mir da zustimmt, aber in Teheran und im ganzen Iran sind wir dem gemeinschaftlichen Willen eines Volkes begegnet. Das ist großartig, und das kommt nicht alle Tage vor. Außerdem (…) hat man diesem gemeinschaftlichen Willen ein Objekt, ein Ziel gegeben, und zwar ein einziges: die Abdankung des Schahs. Dieser gemeinschaftliche Wille, der in unseren Theorien stets allgemein ist, hat sich im Iran an ein vollkommen klares und eindeutiges Objekt geheftet und so seinen Einbruch in die Geschichte bewerkstelligt. (DE 933/934)

Was Foucault hier beschreibt, könnte auch von einer Beobachter:in stammen, die dieser Tage den Ereignissen in Teheran beiwohnt, oder auch in unzähligen Städten und Ortschaften in gesamten Land: Das überwältigende Gefühl, den kollektiven Willen der Iraner:innen in seiner Performanz durch ein Kollektiv von protestierenden Individuen tatsächlich in actu zu sehen und zu erfahren. Ein Wille, der sich in einer Bewegung Bahn bricht, die ganz entschieden von Frauen getragen wird. Ein Wille, der sich zugleich so deutlich wie nie seit der Revolution von 1979 in aller Entschiedenheit gegen das System, gegen die Herrschaftselite, gegen die Islamische Republik als Ganze richtet. Den Protestierenden geht es nicht mehr um Reformen im Rahmen bestehender Herrschaftsstrukturen, nicht um eine gefälschte Wahl (wie 2009), nicht nur um bessere Lebensbedingungen, um Lebensmittel- oder Energie- und Kraftstoffpreise (wie 2017/2019), nicht lediglich um die Forderung nach etwas mehr Spielräumen und besseren Bedingungen für die Zivilgesellschaft, für Aktivist:innen und Journalist:innen, für Schüler:innen und Studierende. Jetzt wird die Systemfrage offen gestellt. Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen der letzten 25 Jahre, angefangen mit der Wahl des reformorientierten Präsidenten Chatami (1997), stellten das System der islamischen Republik – auch wenn viele der Aktivist:innen bereits damals das System ablehnten – nicht offen in Frage. Der erklärte Weg war die Reform, doch das Regime stufte jeden Wunsch nach politischer Veränderung als systemfeindlich ein und hatte immer nur eine Antwort parat: Repression. Nachhaltige Reformen wurden verunmöglicht, Reformpolitiker von ihren öffentlichen Posten direkt ins Gefängnis gesteckt oder unter Hausarrest gestellt, Protestbewegungen wurden allesamt brutal und scheinbar effektiv niedergedrückt. Das Ergebnis war nicht nur die Unterdrückung der internen Opposition und die Verstummung des Reformdiskurses, die breitflächige Repression führte, ähnlich wie im Vorfeld der islamischen Revolution von 1979, zur Herausbildung und Stärkung eines „absoluten kollektiven Willens“, der sich nun ganz entschieden und offen artikuliert und auf ein Objekt heftet: es geht um die Überwindung des herrschenden Systems, die Abschaffung der Islamischen Republik.

Dieser kollektive Wille, der sich derzeit auf den Straßen, an den Universitäten und – das ist in dieser Form neu – sogar in den Schulen überall in Iran zeigt und lautstark Gehör verschafft, drückt sich keineswegs allein in Negativforderungen aus. Der Leitspruch der Proteste „zan, zendegī, āzādī“ (Frau, Leben, Freiheit), der erstmals auf Kurdisch (Jîn, Jiyan, Azadî) skandiert wurde, nämlich bei der Beisetzung von Mahsa Jina Amini, deren Tötung im Gewahrsam der Sittenpolizei diese Welle der Proteste bekanntlich ins Rollen brachte, ist alles andere als eine willkürliche Zusammenstellung von Schlagworten. Diese drei Begriffe bringen zentrale Erkenntnisse eines Prozesses der Emanzipation und Bewusstwerdung der iranischen Zivilgesellschaft in ihrem Zusammenhang auf den Punkt. Dass die Forderung nach Freiheit, nach der Anerkennung grundlegender liberaler Rechte, mit der Ruf nach „Leben“ kombiniert wird, ist im iranischen Kontext keineswegs trivial. Denn nicht nur kann ein würdevolles Leben ohne Freiheit nicht realisiert werden, die Voraussetzung für Freiheit ist, dass das Leben jedes einzelnen Menschen als unantastbarer Wert anerkannt wird. Keine Selbstverständlichkeit im System der islamischen Republik, in der jeder Bürgerin und jedem Bürger aufgrund selbst zurückhaltender Kritik willkürliche Repression bis hin zu tödlicher Gewalt seitens des Sicherheitsapparates droht. Wenn die Iraner:innen „Leben“ skandieren, so ist das auch ein Protest gegen den allzu zentralen Stellenwert des Todes (marg) in der Ideologie der Islamischen Republik, die in ihren jahrzehntelang wiederholten Parolen nicht nur dem „Feind“ (doshman, ein weiterer zentraler ideologischer Begriff) den Tod wünscht (marg bar …),[iv] sondern auch den Tod der eigenen Bürger:innen – durch die Ideologisierung, ja den Missbrauch, des schiitischen Märtyrerglaubens – höher zu werten scheint als deren Leben.

Wenn in dem zentralen Slogan der landesweiten Protestbewegung, die trotz massiver Repression seit über einem Monat andauert, der Begriff „Frauen“ vorangestellt wird, so ist auch das nicht allein eine spontane Reaktion auf die Tötung junger Frauen durch staatliche Gewalt, sondern aus der Erkenntnis geboren, dass der eben beschriebene Zusammenhang von Leben und Freiheit nicht realisierbar ist, wenn ein Teil der Bevölkerung, die Frauen und Mädchen, von staatlicher Seite systematisch entrechtet, diskriminiert und möglichst unsichtbar gemacht werden. Es ist die Anerkennung der Erkenntnis, dass eine Einforderung von Frauenrechten nicht als Zugeständnis betrachtet werden kann, sondern als eine Bedingung der Möglichkeit für ein Leben in Freiheit aller ist. Es ist zugleich eine Anerkennung aller Frauen und Mädchen in Iran, die seit Jahrzehnten ihre Rechte öffentlich einfordern und sich trotz aller Widrigkeiten und stets von Willkür bedroht eine erstaunliche Sichtbarkeit in diversen Bereichen der Gesellschaft (z.B. Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport) erkämpft haben, sodass sie nun im Konsens aller der Protestbewegung vorausgehen. Es ist mithin eine im besten Sinne feministische Protestbewegung, da einerseits die feministischen Forderungen als Teil des kollektiven Willens betrachtet werden, und andererseits (wie die Autorin „L“ in einer philosophischen Reflexion über den Charakter der Proteste schreibt) die figurative, ikonische Präsenz des Frauenkörpers innerhalb der Proteste zentral ist.

Dem heute landesweit in der Öffentlichkeit erfahrbaren kollektiven Willen der Iraner:innen ist also, man darf es ruhig so nennen, ein Prozess der (Selbst-)Aufklärung weiter Teile der iranischen Gesellschaft vorausgegangen. Es ist nicht abwegig hier an Kants so oft bemühte Aufklärungsschrift zu denken, um das Phänomen, ja den iranischen Weg von Bildung, Reform zur Revolte zu erfassen. Kants Diktum des „Ausgangs aus der Selbstverschuldeten Unmündigkeit“, seine berühmte Definition des Aufklärungsbegriffs, hat trotz aller Widrigkeiten bei weiten Teilen der iranischen Zivilgesellschaft stattgefunden. Das sich jahrzehntelange Widersetzen, die unermüdliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen, das bereits von Schulkindern täglich eingeübte Zwischen-den-Zeilen-Lesen, -Sprechen und -Schreiben, das immer weiter perfektionierte Aufspüren und Besetzen von Freiräumen des Ausdrucks, das ständige Neuentwickeln von Protestformen und Kommunikation hat den „Gebrauch des eigenen Verstandes“ trainiert. Somit kann man weiten Teilen der iranischen Zivilgesellschaft weder „Faulheit“ noch „Feigheit“, in Kants Essay die Hauptgründe der selbstverschuldeten Unmündigkeit, gerade nicht vorwerfen, denn das Denken und das Bilden von Urteilen wurde nicht unwidersprochen den „Vormünden“ überlassen. Diskussionen über die Bedeutung etwa liberaler Werte und ihre Abwesenheit in der politischen Realität werden in Iran, im Rahmen der sich immer wieder kurzzeitig öffnenden und schnell schließenden öffentlichen Freiräume, sowie im virtuellen und privaten Raum seit Jahrzehnten intensiv geführt, sie waren auch der Motor der Reformbewegung.

Doch wenn ein solcher „Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ durch eine staatliche, mithin fremdverschuldete Unmündigkeit konterkariert wird, der Staat den Raum des öffentlichen Vernunftgebrauchs immer enger werden lässt und letztlich sämtliche kritischen Äußerungen als privaten Gebrauch der Vernunft deklariert, der nach Kants Essay ja im Sinne der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden darf, laufen alle Reformbestrebungen ins Leere. Wenn eine Gesellschaft wie die iranische die kognitive Dissonanz zwischen innerer Mündigkeit durch Selbstaufklärung und durch Repression durchgesetzte fremdverschuldete Unmündigkeit über Jahrzehnte erlebt, kann sich ein Konsens entwickeln und jener kollektive Wille gewinnt an potenzieller Energie, ein unbedingter Wille, der danach strebt, die Ursachen der aufgezwungenen Unmündigkeit loszuwerden. Kants Skepsis gegenüber dem Widerstandrecht und der Revolution lässt sich dann nicht mehr halten und es genügt ein Funken, um den Willen auf die Straße zu bringen.

Mahsa Jina Aminis Tod war dieses Mal der Funke und es waren und sind die Frauen, die diesmal die Proteste ins Rollen brachten. Ein weiteres tragendes gesellschaftliches Segment ist die junge Generation Z, deren Eltern die Gründung der Islamischen Republik allenfalls als Kleinkinder erlebt haben, die aber dank der sozialen Medien eine sehr genaue Vorstellung haben, welche Lebensbedingungen der Globale Norden bereithält. Auch bei dieser Generation sind Reflexionen über Grundverständnisse von Begriffen wie Freiheit, Autonomie, Wohlfahrt und was ihre Abwesenheit für die iranische Gesellschaft bedeutet bereits zu einer intellektuellen Selbstverständlichkeit geworden, über die sie sich untereinander austauschen. Ein Video der 16-jährigen Sarina Esmaelzade aus Karaj bei Teheran steht dabei nur beispielhaft für die Reife dieser Generation, die neben dem in diesem Alter erwartbaren Wunsch nach Freiheit und Freude, sehr politisch und ernst über gesellschaftliche Zustände nachzudenken im Stande ist. All das, sowie die Reflexion über die Erfahrungen früherer Generationen, hat auch bei der Jugend jenen kollektiven Willen erstarken lassen, und insbesondere Mädchen und junge Frauen auf die Straße getrieben, um mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ und unter dem tosenden Beifall und Beistand von Jungen und Männern gegen den Kopftuchzwang und in Konsequenz gegen das System der Islamischen Republik aufzubegehren. Dass das in Iran lebensgefährlich ist, ist dabei allen bekannt. Sarina Esmaelzade wurde am 23. September 2022, als sie an einer Demonstration in Karaj teilnahm, von Repressionskräften getötet.

Was hält angesichts dieser massiven und willkürlichen Gewalt den bereits von Foucault beobachteten „kollektiven Willen“ auf der Straße? Was ist der Grund dafür, dass er sich dieses Mal nicht durch die Brutalität der Schlagstöcke, den Einsatz von Schusswaffen, Verhaftungen, Erpressungen und massiven Bedrohungen gegen Aktivist:inen und Angehörige, von im Zuge der Demonstrationen Verschleppten und Getöteten unterdrücken lässt? Welche Kraft lässt die Proteste andauern und die Form einer sich anbahnenden Revolution annehmen? Was hält die Menschen angesichts der Gefahr und der Repression zusammen?

Zusammenhalt in Unrechtserfahrung als Politische Spiritualität

Gibt es jenseits des Willens selbst eine das Subjekt transzendierende und die Individuen verbindende Kraft, die dem Subjekt, jeder einzelnen protestierenden Person die Fähigkeit gibt, aus der Isolation der Überwachung herauszutreten und die Gefahr für das eigenen Leben in Kauf zu nehmen um des Lebens willen? Foucault versuchte es 1978/79 mit einem Konzept zu erklären, für das er sich viel Kritik einhandelte: Politische Spiritualität. In der Vorbereitung auf seine Reise nach Teheran hatte er sich durch die Lektüre von Corbin und Massignon mit den spirituellen Dimensionen der Schia und des Sufismus vertraut gemacht, die für Corbin einen spirituellen „Islam iranien“ ausmachten. Der Märtyrer-Kult, das Aufbegehren des militärisch hoffnungslos unterlegenen Imam Hussains und seiner Anhänger gegen die Tyrannei der herrschenden Umayyaden-Kalifen und deren Martyrium von Kerbala (680), war seit jeher ein identitätsstiftendes Narrativ der Schia. Auch in der revolutionären Bewegung von 1978/79 spielte es eine bedeutende Rolle. Foucault sah in dieser geistesgeschichtlich verankerten religiösen Grundierung eine Kraft, die dazu beitrug, die revolutionäre Bewegung aufrecht zu erhalten.

Welche Bedeutung hat für die Menschen, die dort leben, jenes Ziel, das sie selbst um den Preis ihres Lebens anstreben und dessen bloße Möglichkeit bei uns seit der Renaissance und den großen Krisen des Christentums in Vergessenheit geraten ist, das Ziel einer politischen Spiritualität nämlich? Ich höre bereits, wie manche Franzosen lachen, aber ich weiß, dass sie Unrecht haben. DEIII 870

Die Anwürfe mancher seiner Kritiker, er sei mit dem Konzept der Politischen Spiritualität der Ideologie der Islamisten auf den Leim gegangen oder habe diese gar unterstützt, lassen sich mit Blick auf sein Texte und Interview-Äußerungen wiederlegen, zugleich ist aber auch deutlich, dass er sich mit der ideologischen Dimension des Islamismus, auch wenn er diese durchaus kritisch kommentierte, nicht intensiv befasste, da es nicht das war, was ihn in Iran interessierte.[v] Gerade mit Blick auf die aktuellen Ereignisse in Iran aber kann man sich fragen, ob es tatsächlich eine Grundierung im schiitisch-spirituellen Islam war, die damals das Phänomen der politischen Spiritualität als Triebkraft des Aufbegehrens rechtfertigte.

Vermutlich ist es damals wie heute ein viel grundlegenderes Phänomen, das nicht einer bestimmten religiösen Erzählung bedarf, sondern einer kollektiven Erfahrung des Unrechts, oder besser eines kollektiven Bewusstseins von der Präsenz unzähliger individueller Unrechtserfahrungen. Erfahrungen, die in die Psyche und Körper der Einzelnen zwar individuell eingeschrieben sind, durch das (Mit-)Erleben von Demütigung, Erniedrigung, Bedrohung, Gewalt. Erfahrungen, die sich aber gleichen oder zumindest ähneln von Subjekt zu Subjekt und so ein Kollektiv bilden, das im Momentum des Aufbegehrens jedem einzelnen Subjekt die Kraft, den Mut und den Schutz geben kann zu sagen, „ich muss und ich kann mich wiedersetzten, mich befreien und etwas ändern“. So verstanden ist politische Spiritualität die Kraft, die durch jenes Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt wird, ein Gemeinschaftsgefühl, das durch ein Geflecht von Bildern, Gesten, Slogans und Protestaktionen und durch die täglich erfahrene Gewalt, die jeden und jede treffen kann, entsteht. Die Bilder von Frauen, die ihr Kopftuch ablegen oder verbrennen, das gemeinsame Singen von Protestliedern (Bella Ciao) oder der von Shervin Hajipour aus Tweets komponierten „Hymne“ der Protestbewegung #barāye, die innerhalb weniger Stunden 40 Millionen Mal angeklickt wurde, die kurzen Videosequenzen vom mutigen Auftreten von Demonstrantinnen, Studentinnen, Passantinnen, Schülerinnen, gehören, in den sozialen Netzwerken gespeichert und verbreitet, ebenso zum jenem Geflecht von gemeinschaftlicher Erfahrung, wie die Szenen von Gewalt und Tod, die eben gegen die Produzenten dieser Bilder gerichtet sind, die Wut und Entschlossenheit aber zu festigen scheinen.

Immer wieder neu entstehende, mimetische Akte, Augenblicke der Selbstbefreiung – insbesondere von Frauenfiguren – reproduzieren, erneuern und vermehren die Knoten im Spannungsnetz des Wiederstandes. Dieses sich über das ganze Land verbreitende Spannungsnetz ist klassen- und generationenübergreifend und wird entschieden von ethnischen Minderheiten (Kurden, aber auch Baluchen, Arabern und Azaris) mitgetragen. Es ist dezentral und wird von einzelnen Momenten eines sich scheinbar selbst organisierenden Systems mit Energie gespeist. Vielleicht ist die Kraft, die dieses Spannungsnetzt durchfließt, das, was man ausgehend von Foucault politische Spiritualität nennen könnte: Jenes kollektive und zugleich unmittelbare Bewusstsein für ein Zusammengehörigkeitsgefühl (hambastegi) und dafür, dass das Momentum der Veränderung da ist. Eine solche kollektive Energie hat das Potential den Lauf der Geschichte anzuhalten und historische und politische Kausalitäten außer Kraft zu setzten, neue Kausalitäten aus Spontaneität, aus Freiheit, anzufangen. Noch einmal Foucault dazu:

Erhebungen gehören zur Geschichte. Aber in gewisser Weise entgehen sie der Geschichte. Die Bewegung, in der ein einzelner Mensch, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: »Ich gehorche nicht länger«, und einer als ungerecht empfundenen Macht unter Lebensgefahr entgegentritt – diese Bewegung scheint mir nicht erklärbar zu sein. Weil keine Macht sie jemals vollständig unmöglich zu machen vermag. Warschau wird stets sein aufständisches Getto und seine von Aufständischen bevölkerte Kanalisation haben. Für den Menschen, der sich erhebt, gibt es letztlich keine Erklärung. Ein Mensch muss sich losreißen und den Faden der Geschichte samt ihren langen Kausalketten durchtrennen, um die Todesgefahr »wirklich« der sicheren Pflicht zum Gehorsam vorziehen zu können.

Alle Formen gewonnener oder geforderter Freiheit, alle Rechte, die man geltend macht, und selbst noch die geringfügigsten, finden hier einen Ankerpunkt, der fester ist und näher liegt als die »natürlichen Rechte«. Wenn Gesellschaften durchhalten und lebendig bleiben, das heißt, wenn die Mächte darin nicht »absolut absolut« sind, so weil hinter der Akzeptanz und dem Zwang, jenseits der Drohung, der Gewalt und der Überredung jener Augenblick möglich bleibt, in dem das Leben keinen Handel mehr zulässt, die Mächte alle Macht verlieren und die Menschen sich trotz Galgen und Maschinengewehren erheben. (DE III 987/88)

Diesmal sind es die Frauen, die sich zuerst erhobenen haben. Die ihren Körper befreien, als protestierenden Körper inszenieren und dadurch nicht nur ihren eigenen Körper, sondern dem Protest als Ganzem neues Leben einhauchen. Eine Befreiung, die im Moment des Aufbegehrens nie dagewesene Bilder produziert und zugleich den Tod bedeuten kann. Doch dieses Inkaufnehmen der Todesgefahr ist keine Überhöhung des Todes über das Leben. Es geht den Protestierenden, anders als bei ideologisch aufgeladenen Märtyrer-Aktionen, nicht um ein Todesbewusstsein (marg-āgāhī) in der Handlung, nicht um eine Höherstellung des Jenseits vor dem Leben im Diesseits. Sondern um ein Bewusstsein für ein Leben, das in ihrer kollektiven Vorstellungskraft schon längst lebendig war und das sie endlich im Hier und Jetzt und unbedingt verwirklichen wollen. Es geht also genau um das, was im Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ verkörpert wird.

 

Momentum: Revolte als Möglichkeitsraum

Die Dezentralität der Revolte und ihr Charakter eines sich selbst organisierenden Systems, das nicht von einzelnen Köpfen oder Gruppierungen gelenkt wird, scheint die entscheidende Stärke zu sein, auf die das Regime in dieser Intensität nicht vorbereitet war. Zugleich wird jetzt von Analyst:innen gefragt, kann ein Streben nach politischer Veränderung erfolgreich sein, wenn keine klare Opposition erkennbar ist, keine politische Agenda auf dem Tisch liegt, kein politisches System im Hintergrund, etwa der Diaspora, dass an die Stelle des jetzigen treten könnte? Kann es gelingen, wenn zugleich bekannt ist, dass der Sicherheitsapparat unnachgiebig ist und eine Intervention aus dem Ausland weder gewünscht noch in Sicht? Wer soll das Schicksal Irans nach einem möglichen Umsturz bestimmen?

Foucaults zu Beginn erwähnte und auch im letzten Zitat aufscheinende Überlegungen zur Revolte als ein präsentisches Phänomen, das bisherige geschichtliche Kausalität und Teleologie außer Kraft setzt, ermöglichen hier das Verständnis des Phänomens sich anbahnender Revolutionen. Durch den unbedingten kollektiven Willen und gestützt durch ein das Land überziehendes Energienetz, das man vielleicht als eine Form der politischen Spiritualität bezeichnen könnte, wird durch den Mut und das Durchhalten der Protestierenden ein Möglichkeitsraum eröffnet, in dem auch das bisher kaum Denkbare denkbar wird. Ein Möglichkeitsraum, in dem durch die Geschlossenheit der Bewegung nicht nur ein Regimewechsel vorstellbar, sondern auch das sich Herausbilden eines politischen Systems denkbar wird, das Merkmale der Bewegung, wie die Repräsentation und Partizipation ethnischer Minderheiten, religiöse und weltanschauliche Vielfalt, Pluralität von Meinungen, Medien und Geschlechterentwürfen und nicht zuletzt – vielleicht entschiedener als irgendwo sonst – eine feministische Ausrichtung der Politik aufgreifen könnte. Warum? Weil die Unterdrückung all dieser Werte nicht nur zur DNA des Regimes gehört, sondern das jahrzehntelange Eintreten für diese Werte und die dafür eingegangenen hohen Risiken Teil der kollektiven Unrechtserfahrung, des kollektiven Traumas sind.

Kluge Köpfe und Ideen sind in Iran dafür vorhanden, sie haben sich, wenn sie nicht ins Exil gehen mussten, gegen alle Widerstände des Machtapparates als Stimmen der Zivilgesellschaft versucht zu behaupten, als Journalist:innen, Menschrechtsaktivist:innen, Hochschuldozent:innen, Lehrer:innen, Blogger:innen. Viele von ihnen haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Man kann ihnen kaum zum Vorwurf machen, sich angesichts der Repression nicht nachhaltig politisch organisiert zu haben. Ansätze solcher Organisation wurden nach dem Ende der Reformbewegung unnachgiebig unterdrückt. Man kann ihnen aber zutrauen, dass sie sich, sobald sich dafür eine Gelegenheit bildet, schnell organisieren werden.

Natürlich kann man immer rationale Gründe finden, die für ein Scheitern sprechen, sei es das der Protestbewegung oder durch einen drohenden internen Machtkampf oder gar einen Bürgerkrieg. Doch was ist damit gewonnen, diese Szenarien heraufzubeschwören? In Iran ist gerade vieles möglich, auch eine Gesellschaftsordnung, die Vorbildcharakter haben könnte. Den Glauben daran etwa aus einer europäischen Beobachterperspektive abzutun und sich, bei aller berechtigter Sorge um drohendes Unheil, auf eine Grundskepsis bezüglich der Erfolgsaussichten einzustimmen, ja sogar auf die Formel „Stabilität“ vor Freiheit zu einigen, wäre nicht nur eine zynische Haltung gegenüber der iranischen Freiheitsbewegung, die im Moment ihre Kraft aus dem „es kann werden“ schöpft, es ist eben ein Verkennen der Tatsache, dass das Nicht-wissen-was-wird auch ein Gelingen-können beinhalten kann, dem man am besten zuarbeitet, indem man den Gelingensmöglichkeiten gedanklich Raum lässt. Wenn bereits jetzt von einer feministischen Revolution gesprochen wird, so bezeichnet das (noch) nicht die politischen Veränderungen, die (noch) nicht eingetreten sind, sondern einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der stattgefunden hat und die Grundlage bietet für mögliche Gesellschaftsmodelle eines künftigen Irans.

Darüber hinaus ist ein notorischer Skeptizismus gegenüber den Erfolgsaussichten der Bewegung angesichts des erstarkenden Autoritarismus in der Welt eine törichte Haltung des Fatalismus. Im Moment leistet die iranische Bevölkerung durch Ihren Widerstand weit mehr gegen die autokratische Bedrohung, die sich derzeit über Europa, ja dem gesamten Globalen Norden, zusammenbraut, als wir bereit sind, zu erkennen. Ausgerechnet im geographischen Zentrum der Achse autoritärer Ideologien zwischen Russland und China, in Iran, erhebt sich eine Gesellschaft, um für Werte einzutreten, die inzwischen weder in Europa noch in Nordamerika vor antidemokratischen, populistischen und extremistischen Kräften sicher sind. Mit anderen Worten: der Autoritarismus bedroht inzwischen den Bestand dieser Werte auch für die Mehrheitsgesellschaften, denn für marginalisierte Gruppen waren sie ja auch im Globalen Norden schon seit jeher nicht in gleicher Weise gültig

Dass Revolten einen Möglichkeitsraum eröffnen, bedeutet keine Garantie für ausbleibendes Unheil, sie fordern uns lediglich dazu auf – gemäß dem Prinzip Hoffnung – konkrete Utopien als Möglichkeiten zu denken, als In-Möglichkeit-Seiend, die vielleicht in erster Linie das Schicksal einer Gesellschaft verändern, die sich erhebt, in der Konsequenz aber auch auf globaler Ebene ein Momentum darstellen können, das, wenn es gesehen und genutzt wird, eine Chance ist, dem Autoritarismus die Stirn zu bieten. Eine nachhaltige und sich weiter vertiefende Solidarisierung mit der iranischen Freiheitsbewegung bedeute mithin mehr als eine Sympathiebekundung mit den Protestierenden in Iran, es ist eine politische Haltung von globaler Tragweite. Mit anderen Worten, der Möglichkeitsraum, den die Iraner:innen unter Einsatz ihres Lebens derzeit offenhalten, geht uns alle an.

[i] Bei den Ideenreportagen Foucaults handelt es sich um eine Serie von Essay-Reportagen, die Foucault zunächst in Auftrag der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera veröffentlichte, es folgten Beiträge und Interviews in französischen Zeitungen, bis sich Foucault schließlich nicht mehr zu dem Thema äußerte. Die Reportagen und darauffolgende Texte sind im Band III von Dits et Ecrits der Werkausgabe wieder abgedruckt. Die Angaben der hier verwendeten Zitate, beziehen sich auf die deutsche Ausgabe DE Dits et Écrits. Schriften. 4 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001–2005 [Dits et Écrits. 4 Bde. Paris: Gallimard 1994].

[ii] Hier sei verwiesen auf folgende Publikationen: Leezenberg, Michiel. ‘Power and Political Spirituality: Michel Foucault on the Islamic Revolution in Iran’; Ghamari-Tabrizi, Behrooz. Foucault in Iran: Islamic Revolution after the Enlightenment. Muslim International. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2016; Sarasin, Philipp. ‘Zeitenwende. Michel Foucault und die iranische Revolution – Geschichte der Gegenwart’. Accessed 3 November 2022. https://geschichtedergegenwart.ch/zeitenwende-michel-foucault-und-die-iranische-revolution/; Beukes, Johann. Foucault in Iran, 1978–1979. AOSIS, 2020. https://doi.org/10.4102/aosis.2020.BK203.

[iii] In der deutschen Übersetzung wird „volonté absolument collective“ als “absolut gemeinschaftlicher Wille” wieder gegeben. Die Übersetzung mit „absolut kollektiver Wille“ scheint hier aber treffender, weshalb im Text durchgehend der Begriff “kollektiver Wille” verwendet wird.

[iv] Die Losung „marg bar xy“ (Tod für xy) ist der auf staatlich organisierten Kundgebungen vielleicht am häufigsten verwendete Wahlspruch, wobei „xy“ wahlwiese durch einen beliebigen Feind (insbesondere USA und Israel) gefüllt werden kann. In den derzeitigen Protesten wendet sich der Slogan, skandiert von Demonstrant:innen auf der Straße oder meist nachts aus den Fenstern gerufen, gegen die politische Führung selbst marg bar diktator Tod dem Diktator. In dieser Intensität ist das bisher einmalig seit bestehen der Islamischen Republik.

[v] Dazu Leezenberg, Ghamari-Tabrizi, Sarasin, Beukes.

 

Vorgeschlagene Zitierweise: Roman Seidel, „Die Revolte als Möglichkeitsraum: Reflexionen zum aktuellen Freiheitskampf in Iran,” in Denkanstöße – Reflections, 03.11.2022, https://philosophy-in-the-modern-islamic-world.net/die-revolte-als-moglichkeitsraum/, ISSN 2941-0347.